23.03. — 18.05.2019


KEN'ICHIRO TANIGUCHI
HECOMI & CITY STUDY #40
ERÖFFNUNG: FR, 22.03.2019, AB 18 UHR

Im Liniengewirr die besondere Skulptur erkennen

Eine Karte zeigt einen Ausschnitt eines Gebiets. Aber das muss nicht nur wie im Autoatlas der Bewegungsinformation dienen. Eine Karte kann auch die Eisenbahnlinien, die unterirdischen geologischen Brüche oder die Abdeckung mit Mobilfunkfrequenzen zeigen. Aber immer ist eine gezeichnete Karte mehr als die bloße Zweckinformation eines Navigationsgeräts. Die Lineamente einer Karte geben auch eine Zusammenschau. Und sie laden zu imaginären Reisen ein. ... mehr lesen
Im Liniengewirr die besondere Skulptur erkennen

Eine Karte zeigt einen Ausschnitt eines Gebiets. Aber das muss nicht nur wie im Autoatlas der Bewegungsinformation dienen. Eine Karte kann auch die Eisenbahnlinien, die unterirdischen geologischen Brüche oder die Abdeckung mit Mobilfunkfrequenzen zeigen. Aber immer ist eine gezeichnete Karte mehr als die bloße Zweckinformation eines Navigationsgeräts. Die Lineamente einer Karte geben auch eine Zusammenschau. Und sie laden zu imaginären Reisen ein.

Ken’ichiro Taniguchi, 1976 in Sapporo  geboren, seit 2006 in Berlin lebend, war früh an solche phantastischen Reisen über die Zeichen auf dem Papier gewohnt, denn sein Vater war Geologe und hatte stets viel Kartenmaterial im Hause. Aus seinen virtuellen Wanderungen wurden dann reale, aber die Suche nach anregenden Kartographien blieb: Seit 2000 sucht er in seinem „Hecomi-Projekt“ weltweit an Wänden und auf Böden in der gebauten Umwelt nach der geheimen Schrift von Mauerschäden, Abnutzungsrissen und feinen Materialbrüchen, von Einkerbungen und kleinen Ermüdungserscheinungen und entwickelt daraus seine Kunstobjekte. Manche der zufälligen Rupturen erinnern an Straßen- oder Spinnennetze, an Knochenstrukturen oder Mikrobilder von Amöben. Schon Leonardo da Vinci regte in seinem Traktat über die Malerei an, sich von rissigen und fleckigen Wänden zu Figuren, Landschaften, oder gar Reiterschlachten inspirieren zu lassen. Was in der Renaissance als Anregung diente, wurde in der Moderne dann in der Malerei des Informel selbst bildwürdig. Und das implizit Skripturale daran vermag einen in der asiatischen Zeichenschrift Geübten in besonderem Maße  anzusprechen.

Auf der Suche nach neuen, inspirierenden  Formen legt Ken’ichiro Taniguchi für die Orte seiner Hecomi-Studien einen Atlas dieser Funde an. In der kontrollierten Aneignung des Zufälligen arbeitet er dann einige davon handwerklich präzise in meist gelbem Kunststoff nach. Wie extrem passgenau seine aufwändig erstellten Ergänzungsskulpturen sind, zeigen die in Photo und Film dokumentierten späteren Wiedereinfügungen der leuchtend gelben Objekte in die originalen Bruchstellen vor Ort. So wie einst im alten Japan zerbrochenes wertvolles Porzellan mit Gold repariert, die Narbe also nicht versteckt, sondern als Teil der Geschichte hervorgehoben wurde, so wirkt die Kunst Ken’ichiro Taniguchis, obwohl zugleich ganz autonome Form, auch wie eine magische Heilung dieser vielen kleinen Verletzungen im historischen Stadtraum.

Doch sind die heutigen Städte nicht selbst Verletzungen der Natur, sind sie nicht als Ganzes harte Brüche im gewachsenen Landschaftsbild ihrer Umgebung? Zumindest auf Luftaufnahmen könnte es so scheinen. Seit einigen Jahren erfasst Ken’ichiro Taniguchi nun mittels solcher Vogelschaubilder die Linien, die die menschlichen Agglomerationen in die Welt schreiben. Dabei geht es ihm nicht um das Wegenetz. Er zeichnet die viel komplizierteren Grenzlinien zwischen Bebauung und Grün, nur die Flüsse dürfen als historisches Gerüst der Orte auch erscheinen. Wieder werden die erzeichneten Formen auf PVC übertragen, ausgesägt und mit Scharnieren klapp- und handhabbar gemacht. Denn aus dem inspirierenden Ausgangsabbild muss eine neue Form werden. Das in der japanischen Tradition bekannte Erzeugen von Volumen durch Faltungen überträgt Ken’ichiro Taniguchi auf sein Material und wendet es solange an, bis er eine neue skulpturale Gestalt gefunden hat.

Schon in den kleineren handgearbeiteten Modellen, aber mehr noch in den dann in industrieller Facharbeit aus Carbon und Edelstahl in raumfüllendem Maßstab u.a. für die Sapporo Community Plaza ausgeführten Großplastiken entstehen so ganz neue und doch manchmal den Bewohnern ein wenig vertraute  Metazeichen ihrer Geographie. Und da jede Stadt anders ist, steckt in den individuellen Hecomi-Studien eine geheime Quintessenz der Struktur, eine Formensprache, wie sie einst der Flaneur in der Stadt las und zukünftig der Weltraumtourist auf der Erde erkennen wird.

- Hajo Schiff

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